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Gras, Sonne, Laub und Winter

Das Abendmahl nehme ich mit dem gesamten Hofstaat ein. Ich sitze am Tisch, futtere alles, was aufgetragen wird und spüle mit Bier nach. Wie ich diesen goldigen Trunk liebe, ich mag ihn mehr als alles auf der Welt. Selbst wenn mir früher eine Jungfrau vom Lande geliefert wurde, griff ich erst einmal zum Gerstensaft. Am liebsten mag ich fettes Fleisch, das so richtig trieft vor Fett. Was für ein Genuss, sich dann die Finger zu lecken. Ich kontrolliere den Prozess haargenau, indem ich nach und nach den Gürtel lockere. Wenn keine Löcher mehr übrig sind, klatsche ich in die Hände und verkünde das Ende. Dann gehe ich zum nächsten Programmpunkt über. Der Majordomus bringt den Kaiserlichen Kalender, ich schaue auf das Datum und lese: Heute Kaæka, Maryæka und Jaæka, ab in die Federn. Jede bekommt ihre Übung. So ging das lange Jahre, Abend für Abend, im Berliner Schloss. Doch alles hat einen Anfang und ein Ende. Ersteres hatte ich erlebt, das Ende aber war noch nicht gekommen, auch wenn ich schon grau war wie ein Tauberich. Eines Tages, an einem verflixten Montag, platzte mein Gürtel - der Aufseher - und es gab niemanden mehr, der meine Völlerei kontrollierte. An das, was weiter geschah, kann ich mich nicht mehr erinnern. Erst im Bett komme ich zu Bewusstsein, fühle mich schwach, spüre meinen Körper nicht. Ich betaste mich überall und stelle fest, dass ich lebe. Aber niemand liegt neben mir, wie ist das möglich? Langsam und qualvoll öffne ich die Augen. Ich sehe nichts, alles wie hinter Nebel. Vollkommen geschwächt, zwinge ich mich mit aller Willenskraft, genauer hinzuschauen. Langsam, Stück für Stück hellt sich das Bild auf, nimmt Formen an. Undeutlich erkenne ich, dass sich Leute in hellen 34 Kleidern um mich zu schaffen machen. Mit trockenen Lippen bringe ich mühsam heraus: »Licht!« Mein Bett wurde ans Fenster geschoben. Zuerst sah ich überall Grün. »Gras, Gras«, krächzte ich, fiel wieder ins Koma, nahm das Wort mit mir, flüsterte es in Gedanken immerfort: Gras, Gras. Ein Bild kam in mir hoch: Ich in einer Wiege, ringsum alles grün. Maammaa. Oh, hört nur, Sohnemann beginnt zu sprechen. Mein Traumfilm entwickelte sich rasend: Ich laufe über den Rasen vor dem Schloss, schlage mit einem Stock laut gegen die Mauern und werfe mit Steinen nach den Würdenträgern und Hofgästen. Das Kindermädchen sagt: »Das schickt sich nicht für einen Thronfolger, gleich gibt's was mit der Rute!« Das Fenster geht auf. Es ist die Mutter! »Klara, bring den Rabauken zu Tisch, mach ihn zuvor zurecht. Unser Kaiser ist heute schlecht gelaunt, vielleicht hellt der Anblick des Sohnes sein Antlitz auf.« Nächste Szene: Ein grauhaariger Alter, spindeldürr: »Eure Hoheit, heute nehmen wir die guten Manieren durch.« Als Antwort strecke ich ihm die Zunge raus. Da war Hopfen und Malz verloren. Er schrie: »Schluss! Wache!« Die nächste Szene. Der ganze Hof im Thronsaal. Auf dem Podium sitzt ein Graubärtiger mit Krone, winkt mit dem Finger. Ängstlich trete ich heran und knie vor ihm nieder. Er zieht mich am Ohr: »Spiel, so viel du kannst, noch genießt du Welpenschutz.« Beschämt reiße ich mich los und laufe in den Park. Mein Blick begegnet dem meiner Cousine, die gerade zu Besuch ist. »Ach, da bist du ja. Ich habe so lange gewartet, eine halbe Ewigkeit. Komm, ich liebe dich.« Erschrocken laufe ich fort, ins Nirgendwo. Der Traum verging, doch die Leidenschaft weckten die Lebenssäfte. Langsam versuchte ich, die Augen zu öffnen. Das war schwierig, die Lider lasteten so schwer. Wieder alles hinter Nebel, undeutliche Gestalten drehten sich im Kreis. Erschöpft krächzte ich: »Licht! Ich sehe nichts.« Wieder schob man mein Bett ans Fenster. Tausend Sterne blendeten blinkend meine Augen, unter Mühen rief ich schwach: »Die Sonne, die Sonne!« Und fiel in einen lethargischen Fiebertraum. Ich sah eine Hochzeit mit mir als Hauptdarsteller und meiner ausländischen Cousine. Die Familie, Verwandte und Gäste im Hintergrund. Am Ende der Zeremonie unterstrich mein Vater: »Ab heute wirst du dein Leben selbst tragen, verlass dich auf nichts.« Dann drohte er schelmisch: »Bald wirst du auch meine Last tragen müssen. Wirst sehen, wie süß sie ist«, und er lachte übers ganze Gesicht. »Viel Glück, du junger Stier.« »Ich werde dich nicht enttäuschen, Vater«, gab ich zur Antwort. Darauf er: »Wir werden sehen, die Geschichte wird es zeigen. Ich gebe dir einen guten Rat: Mach es auf deine eigene Art, denn ich bin ein schlechtes Vorbild.« »Was sagen Sie da, Vater?« »Du hast richtig gehört. Psst! In deinem Alter habe ich die schwersten Schlachten im Bett geschlagen und auf diese Weise Stalingrad und Waterloo überlebt. Mein Beweis sind die Kinder.« Als dieser Film zuende war, begann sogleich ein neuer. Vater starb, Mutter wurde zur Witwe, ich musste die Macht übernehmen. Die Kirchenglocken lärmten feierlich. Ein Herrscher ging, ein Herrscher kommt. Ich hatte mein Ziel erreicht und öffnete ein Buch mit leeren Seiten. Da war ich eingesperrt in des Lebens alltäglicher Tretmühle, beschwert mit kaiserlichen Pflichten. Doch welche Lust mir die Macht mir bereitete! Ich nutzte sie, wo ich nur konnte. Euch werde ich es zeigen! Mir 35 träumte ein typisches Drehbuch: Mein Sekretär meldete: »Allerherrlichste Hoheit, ein Edelmann aus Sachsen wartet schon eine Woche lang vor den Toren auf Audienz.« Ich antwortete: »Lass ihn schmoren, das lehrt ihn Respekt.« Und wie viel Spaß ich dann mit seinen Sorgen hatte. Er war im Steuerrückstand und bat um Erlass... da war er nicht der erste. Ich ließ ihn nicht ausreden, unterbrach ihn ständig, brachte ihn in Verlegenheit, um ihn zu erniedrigen und zu einzuschüchtern. Dazu hatte man mich schließlich auf den Sockel gehoben. Am Ende sagte ich: »Füttere deine hungrigen Soldaten, dann sind wir quitt. Sonst mach ich dich nackig.« Der Idiot schickte verschreckt sein Frau her. So nicht, du Tölpel, mich haust du nicht übers Ohr. Diese Sorte steht mit beiden Beinen auf der Erde und kommt sofort zur Sache. Ich ließ bitten. »Goldiger Kaiser, wir besitzen nichts. Sieh, nicht einmal für Unterwäsche reicht es.« Sie riss ihr Kleid auf. Darauf hatte ich gewartet und schrie sofort: »Wache! Prügelt ihr den Arsch durch, damit er nicht juckt, und ab ins Verlies mit ihr.« Die gefangene Ehefrau wirkte wie ein Katalysator, und wir kamen schnell zum Konsens: Was des Kaiser ist, ist des Kaisers. Gegen meine Feinde fand ich ein Mittel, zeigte meine Macht auf der Kaninchen- und Fasanenjagd. Welches Vergnügen und welche Befriedigung mir das Liquidieren bereitete! Es war wie eine Passion, der Gegner war chancenlos und ich war der Größte. Ich jagte meine Opfer durch Wiesen und Sträucher, scheuchte das erschrockene Geflügel auf und ließ dann meine Kanone knallen, dass die Federn flogen. Die anderen Machthaber sollten es wissen - hier kam Dschingis Khan. Ich zielte auf das Vieh und sagte mir: »Ich töte Kaninchen Tamara aus dem Königreich Ubu, und Schuss. Jetzt Kaninchen Lulu Ð die Hexe aus Weiberstadt, piff paff.« Der Hof lauschte der Jagd und machte sich in die Hosen vor Angst, ich könnte das Terrain wechseln und aufs Schloss kommen. Ich war nicht Caligula, ich mästete meine Drohnen und schnippte dann mit den Finger, zack und aus. Ich wusste, dass ausländische Gesandtschaften in den Sträuchern spionierten. Sie wollten wissen, in welcher Verfassung das Kaiserreich, also ich, mich befand. Zur Warnung Ð dass sie den Löwen nicht antasten Ð eine Ladung Schrot in den Arsch. Treffer, versenkt, Echo aus dem Gebüsch, aua. Die Verletzten schrieben des nachts geheime Berichte, das Licht brannte bis zum Morgen. Als Ergebnis schickte man mir Geschenkkörbe aus ihrer Heimat. »Kaiser, wir sind brav, bitte nicht schießen.« In politischen Fragen war ich ein geschickter Schachspieler. Den Spielausgang bestimmte ich selbst nach Lust und Laune. Als Schiedsrichter beobachtete ich die Duelle und legte die Spielregeln so fest, wie es mir in den Kram passte. Es kam vor, dass ein Bauer die Königin vergewaltigte. Warum nicht? Für dieses Vergnügen zahlte schließlich der König. Bei Selbstbefriedigung und Wichserei schaute ich weg. Von Zuschauern umringt, beobachtete ich heimlich ihre Gesichter. Ich musste auf der Hut sein. Um nicht ausgepfiffen zu werden, hielt ich es mit der Mehrheit. Die ganze Zeit setzte ich die unbewegliche Mine eines würdigen Richters auf und hatte das Spiel streng im Griff. Alles lief nach dem gleichen Muster ab: Turm trutzt, Bauer wird angegriffen. Sicher schweifte mein Blick über alle Winkel des Schachbretts, er war unfehlbar. Die Kraft des vollen Lebens unterbrach meinen Traum. Wieder konnte ich nur mit Mühe Kontakt mit der Umgebung aufnehmen. Ich rief: »Licht!« Man schob mich ans Fenster. Ich sah, wie gelbes Laub von den Bäumen fiel und presste hervor: »Laub! Laub!« Vor Anstrengung wurde ich ohnmächtig, verlor das Bewusstsein. Ich träumte von einer großen Feier. Der Erstgeborene heiratete, ich spürte die Last der Jahre auf den Schultern. Es lag auf der Hand: Der Kreis schloss sich, was sollte ich mich auflehnen, das Zepter musste weitergereicht werden. Meine Gattin aber hütete wie eine Löwin ihre Schäfchen. Ich musste sie anknurren: »Verwöhn sie nicht, sie müssen hart sein. Groß sind die Wölflein und haben was im Kopf. Jetzt 36 sollen sie selbst ans Ruder.« Ich schickte sie zur Jagd, sie sollten etwas für ihre Kondition tun. Süß wie Nektar war mir zum Abendmahl ihre Beichte. Der Reihe nach zitierte ich sie an die Tafel: »Was hast du zu berichten?« Es begann im Traum eine Serie. Der Älteste fing an: »Ich habe einen Boten aus dem Östlichen Kaiserreich erwischt, wie er mit dem Quartiermeister der Armee Geschäfte machte: Für eine Gamaschenlieferung für die Armee schustert er ihm ein Grundstück zu, 15% Provision.« »Und?« »Ich habe den Ausländer so in den Arsch getreten, dass er wie ein Gummigeschoss zu den Seinigen zurückflog. Dem Quartiermeister habe ich die Ohren langgezogen, ihn nackt ausgezogen und gesagt: Versuch das noch einmal, dann schneide ich dir die Eier ab.« »Sehr gut, Söhnchen«, streichelte ich ihm das Köpfchen. »Der nächste!« »Kaiserlicher Vater, ich bin viel besser.« »Ruhe, du Hosenscheißer! Du bekommst einen Nasenstüber, dem Erstgeborenen bist du nie überlegen, selbst wenn er dümmer wäre. Pass auf, was du sagst! Sonst fängst du dir eine ein. Du bist dazu verurteilt, im Schatten zu stehen.« Er flennte los und lief zur Mutter, sich auszuheulen. »Jetzt du, Töchterchen.« »Allmächtiger Vater, der Sohn des Kaisers aus dem Nordreich war zu Besuch. Er ist sogar interessiert und fragte, was ich als Mitgift einbringe?« Verdammt noch mal, in solchen Dingen verstehe ich keinen Spaß. »Was? Das ist das einzige, was ihn an dir interessiert? Auf so einen Schwiegersohn pfeif ich. Sag ihm, er soll verschwinden. Ich lasse mein Kaiserreich nicht ausplündern! Noch so ein Nichtsnutz, der nur auf den Honig scharf ist.« Ich beendete die Zeremonie mit dem sakramentalen Spruch: »Familienbeichte beendet!« Doch immer blieb so eine Angst zurück, eine gewisse Einsamkeit. Alle rannten dem irdischen Glück hinterher, was für ein Abgrund, welch sorgenvolle Last. Im Grunde genommen blieb mir nur ein Vergnügen: Das Spiel mit den Enkeln. Wann immer meine Zeit es erlaubte, ging ich zu ihnen. Wir spielten im Sandkasten, bauten Schlösser und Denkmäler. Wir neckten uns, ich riss ihnen die Schippe aus den Händen, und die Würmchen raubten mir die Krone vom Kopf, setzten sie auf, balgten sich darum. »Schwer ist sie, nicht wahr?«, fragte ich. »Aber eine süße Last«, riefen sie neidisch. »Wartet nur ab, Enkelchen.« Erschöpft vom Traum und vom Leben, harrte ich des Endes. Ein Klopfen kam dazwischen. »Wer da?«, fragte ich. »Aus dem Jenseits, deine Zeit ist gekommen, gleich bist du an der Reihe. Leg dein Leben in die Waagschale.« Schnell raffte ich meinen Lebenslauf zusammen, begann mit den lobenswerten Dingen. Oi, da hatte sich einiges angesammelt. Die Stimme aber mahnte mich, auch die dunklen Seiten aufzuzählen. Das war dann schon mehr. Ich geriet in Verlegenheit. Mir wurde eiskalt. Im Traum schrie ich entsetzlich: »Winter, Winter!« Mein Kopf fiel auf die Brust, mein Körper sackte zusammen, der Blick erstarrte. Ich war gestorben! Meine Seele tauchte im Jenseits wieder auf. Man schaute und wägte meine irdischen Taten. Das Urteil lautete: Mittelmaß. Ich atmete auf, immerhin gar nicht so schlecht, obwohl meine Hände mit Blut und Dreck besudelt waren. Doch in solchen Höhen geht das nicht anders, selbst wenn ich gewollt hätte. Vernichten werden sie mich! Ich wartete voller Angst. Man schoss mich als Atom in 37 das Universum. Ich flog in die Unendlichkeit, traf unterwegs Billionen ähnlicher Fälle. Ich begegnete den Altvorderen, sie waren ebenso machtlos. Nach meiner Sternzeit zog mich Magnetkraft wieder auf die Erde. Ich war Gras. Oh, die Jugend! Ich war sehr froh und bemühte mich, so lange wie möglich grün zu bleiben. Als ich die Farbe wechselte, wurde ich gemäht und verdampfte in den Wolken. Die verschwanden, als das Wetter besser wurde, und ich trat als Sonne hervor. Da! Das Erwachsenenalter. Ich heizte die Erde mit Sonnenstrahlen, so gut ich konnte, bis zur Ernte. Die Sonne ging, alles begann zu welken, ich sah das Laub, wie es sich nutzlos herumtrieb. Da! Das Alter! Die Erde änderte ihre Position im All. Schnee begann zu fallen, der Winter kam. Oh! Der Tod! Ich wurde zu Eis und erstarb für immer.



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